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Agoritsa Bakodimou - Eine Griechin auf dem „Zauberberg“

  934 Wörter 3 Minuten 813 × gelesen
2017-06-22 2017-06-22 22.06.2017

Inmitten einer pittoresken Voralpenlandschaft, mit Blick auf den bläulich schimmernden Zürichsee, nur eine knappe Stunde von der Schweizer Bankenmetropole entfernt, befindet sich das Übersetzerhaus Looren….
von Agoritsa Bakodimou*

Wandern Bäume, um sich anderswo grünere Blätter anzuschaffen?
Robert Walser

Ich erwache vom unmerklichen Geräusch, den die Morgendämmerung macht, wenn sie am Horizont aufplatzt und es jemanden gibt, der ihr zusieht. Krähen vollführen Liebespiele in der Luft, und das taufrische Gras fordert dich auf, es mit nackten Fingern zu zerbrechen. In der Ferne, jenseits der Wälder und der von Kühen umsäumten Wiesen erkenne ich, wie sich der Nebel, bläulich in der Tat, über den See ausbreitet. 

Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878-1956), der nicht weit von hier, in der Stadt Herisau, als Insasse der dortigen Nervenheilanstalt sein Leben beendete, schrieb einmal über den See: 

Der See war ganz blassblau… Die Berge am anderen Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag über den See verbreitete, kaum zu sehen. Sie schienen aus Seide gewoben zu sein. Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an, beinahe!“

(aus: Robert Walser, Der Gehülfe)

Übersetzerhäuser sind kleine, abgeschiedene Welten der Ruhe; die Klänge der verschiedenen Sprachen (dieses Mal hört man außer Deutsch, Englisch und Französisch auch Bulgarisch, Georgisch, Griechisch, Lettisch, Russisch und Türkisch) scheinen sich der Herrschaft des geschriebenen Wortes unterzuordnen. Die Worte beschützen unsere Ruhe.

Ein jeder von uns schließt sich in seiner „Zelle“ ein, wo er hingebungsvoll seine persönliche Zeremonie des Schreibens abhält, die er nur gelegentlich, für kleine Spaziergänge etwa, unterbricht. In der gemeinsamen Küche, über in Pfannen brutzelnden Zwiebeln und eingehüllt in den Rauchschwaden der köchelnden Nudeln, tauschen wir die Geheimnisse der Wörter aus, entdecken gleichklingende Laute, experimentieren mit Geschmäckern und Tönen, die unserer Sprache befremdlich anmuten. Wir lechzen nach Welten, die uns unbekannt sind; nach Brotkrumen auf Büchern, die uns den Weg weisen. Alles vollzieht sich langsam und schnell zugleich, und
was wir jetzt trinken
stillt den Durst der Stunden;
was wir jetzt sind,
schenken die Stunden der Zeit ein.
(Paul Celan „Aus Herzen und Hirnen“ aus dem Zyklus „Halme der Nacht“) 

Abgesehen von den Geschichten, die wir übersetzen, tragen wir auch andere in uns, unsere eigenen, und als Bewohner eines anderen „Zauberbergs“ erschaffen auch wir uns hier oben in den Bergen unser kleines, vorübergehendes ANDERES Leben. Wir beobachten, wie sich die vier Jahreszeiten binnen eines Tages abwechseln, und wie das Leben, das wir hinter uns gelassen haben, dahinschwindet – dem Nebel gleich, der sich im fernen Horizont auflöst. Wie die einen den Abstieg ins Tal herbeisehnen, und wie die anderen, die meisten, sei es als Geiseln oder Geliebte, hier hängenbleiben, vielleicht für immer – wie etwa Hans Castorp auf einem anderen, auf Thomas Manns Zauberberg.

Der Georgier, ein ätherischer junger Mann mit dem Gesicht eines byzantinischen Heiligen in einer weltvergessenen Einsiedelei, hat sich den Spitznamen „Der Geist“ erworben. Er schläft den ganzen Tag und plagt sich in den Nächten mit Marguerite Yourcenar und den griechischen Mythen ab. Eines Nachts begegneten wir uns im Garten, der Rauch unserer Zigaretten kraxelte keuchend in die reglose Luft hinauf, und er gestand mir seine Liebe zu Sappho ein. In gebrochenem Griechisch, unter einem prall gefüllten Schweizer Vollmond mitten in der Walpurgisnacht des Heilbringendes Jahres 2010, in einer Nacht, in der die Hexen ihr bezauberndes Unwesen treiben und das Leben zelebrieren, während die Feen im Schatten der dunklen Wälder nur darauf lauern, dir deine Gewohnheiten abzustreifen, höre ich:

Schnell verging die Zeit, es ist nahe Mitternacht,
der Mond ist untergegangen, versunken auch das Siebengestirn – und einzig ich liege hier einsam und verlassen.
Der Eros, der Qualen und Leid verstreut
Der Eros, der Märchen schafft und formt
ergriff meine Seele und schüttelte sie mir,
gleich einem wütend‘ Wind, der von den
Bergen herab durch die Eichen peitscht.
(Sappho, Gedichtfragmente, ins Neugriechische übertragen von Odysseas Elytis, ins Deutsche übersetzt von Theo Votsos). 

Abends versammeln wir uns unter dem Vorwand der Nahrungsaufnahme und erzählen uns Geschichten. Angetrunken rezitiert der russische Kollege aus seiner Paul Celan-Übersetzung (die russische Seele trinkt, um sich zu erinnern – man denke nur an Dostojewski). Seufzend stolpert, torkelt die Sprache voran, ringt mit sich selbst, um den Weg zu uns zu finden:

Der Hauch der Nacht ist dein Laken, die Finsternis legt sich zu dir.
Sie rührt dir an Knöchel und Schläfe, sich weckt dich zu
Leben und Schlaf,
sie spürt dich im Wort auf, im Wunsch, im Gedanken,
sie schläft bei jedem von ihnen, sie lockt dich hervor.
(Paul Celan, aus dem Gedicht „Schlaf und Speise“, aus dem Zyklus „Halme der Nacht“).

Manchmal übersetzen wir uns die Verse, ein andermal lassen wir uns von ihrem Rhythmus in unser eigenes Dunkel leiten. Wir wünschen uns Gutenacht und verabschieden uns auf unsere „Schreibstuben“. Mitten in die frühlingshafte Finsternis der Almwiesen, auf dass die Lichter in unseren Zimmern wie kleine Fackeln den nächtlichen Reisenden den Weg zeigen.

Ja, wir sind Übersetzer.

(aus dem Griechischen: Theo Votsos)

* Agoritsa Bakodimou ist Autorin, Übersetzerin und freie Kulturredakteurin. Zu diesem Beitrag wurde sie durch einen mehrwöchigen Arbeitsaufenthalt im Übersetzerhaus Looren im Frühjahr 2010 inspiriert. Der griechische Originalbeitrag erschien am 27. Juni in der Sonntagsausgabe der griechischen Tageszeitung „I AVGI“. Ihr überaus positiv rezipiertes literarisches Debütwerk «Το Εγχειρίδιο του Καλού Ταξιδιώτη», 2007 von Livanis herausgegeben, ist im letzten Jahr unter dem Titel „Ein Ort Anderswo. Auf der Suche nach dem Glück des Reisens“ beim Verlag Dr. Thomas Balistier auch auf Deutsch erschienen.

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